Interview mit Nils Aguilar (coco Berliner, 15. feb
photo credit: (c) by Nadja Wehling; Interview von Katja Mollenhauer
In ein paar Tagen beginnt die Berlinale. Ist das Filmfestival interessant für dich? Gehst
du hin?
Ich werde hingehen, aber vor allem für die Begegnungen vor Ort. Manche Freunde von weiter weg sehe ich jedes Jahr nur im Februar zur Berlinale. Da wird schon langsam ein alljährliches Stelldichein draus, mit teils lustigen Ritualen. Ansonsten sind für mich aber auch die Panels relevant, auf denen man mit Filmemachern diskutieren kann, z.B. mit den „Yes Men“: Die werden darüber reden, wie man soziales Engagement mit Humor verbinden kann. Ich werde aber auch als Konsument auf die Berlinale gehen und mir ein paar Filme einverleiben. Ich muss sagen, wenn mich die Stimmung auf der Berlinale nicht gerade nervt, dann finde ich sie auch oftmals ziemlich reizvoll… diese Aufgeregtheit. Man hat das Gefühl, in diesen zehn Tagen sind super viele Fenster offen! Man läuft dann schneller, nimmt Gelegenheiten wahr, trifft Menschen und nimmt sich aber idealerweiser auch noch Zeit, um zumindest die Filme anzuschauen, die man am liebsten selber gemacht hätte.
Wie bist Du Dokumentarfilmer geworden?
Auch wenn ich schon früh mit einem Filmstudium geliebäugelt hatte: Zuallererst wollte ich einfach dieses eine Filmprojekt durchziehen. Dass ich dann plötzlich de facto
Dokumentarfilmer sein sollte, hat mich dann doch überrascht: Schließlich habe ich ja nur Soziologie studiert! Später habe ich dann festgestellt – z.B. wenn man auf diese Festivals eingeladen wird –, dass Dokumentarfilmer ziemlich spannende, sympathische Menschen sind und dass ich mich sehr gerne in diesem Milieu aufhalte… bzw. dass ich mich gerne mit Leuten unterhalte, die der Wahrheit auf den Grund gehen wollen, die die Welt in all ihren Facetten erfahren und aufarbeiten wollen, und ihre eigene Vision der Welt entwickeln. Das habe ich irgendwie auch in mir, glaub ich. Die Tatsache, dass ich mich so gerne mit Dokumentarfilmern unterhalte, wird vielleicht sogar mal dazu beitragen, dass ich einen zweiten Film in Angriff nehme. Wenn man mich allerdings heute fragt, was mein nächstes Filmprojekt ist, dann entgegne ich ganz schnell „bloß nicht!“ denn ich bin mir noch ein Jahr Pause schuldig. Aber Ideen gibt es schon ein paar.
Lag dir anfangs „nur“ das Thema am Herzen? Warum hast du dir das Medium „Film“
gewählt?
Das wäre falsch zu sagen, dass ich „nur“ das Thema des Films spannend fand… Ich glaube, da mein Bruder und ich ohne Fernseher aufgewachsen sind, war das Kino für uns der einzige Ort, wo wir Filme angeschaut haben. Vielleicht habe ich deswegen Interesse für gut gemachte Filme entwickelt. Dann hab ich auch gerne fotografiert. Das heißt, für die Medien Foto und Film hatte ich schon immer ein Faible. Aber tatsächlich war der eigentliche Auslöser eine Reise nach Argentinien. Dort wurde ich indirekt Zeuge von einem barbarischen Ereignis, bei dem Paramilitärs im Auftrag einer Tabakfirma eine Gruppe von Indigenen krankenhausreif geschlagen haben, um ihnen ihre Länder zu rauben. Das war ein unheimlich negativer Auslöser. Ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass ich aufgrund dieser Beobachtungen Verantwortung in mir trage, andere Menschen auf diese schlimmen Dinge aufmerksam zu machen. Nämlich darauf, dass das Wachstumsprinzip des Kapitals – angewandt auf Land und Böden – extrem perverse, unmenschliche Folgen hat, deren sich die wenigsten bewusst werden. Und der Film ist halt nunmal das Medium der Wahl, wenn man möglichst viele Leute auf solche Sachen aufmerksam machen und sie berühren möchte. Mir schien auch das Format des „Film-Events“ mit Publikumsgespräch sehr für diese Themen geeignet. Und so habe ich, glaube ich, schon im Jahr 2006, als ich das erste Mal Ideen zum Film skizziert hatte, den Wunsch gehabt, mal mit dem Film zu „touren“. Dass ich dann so viele Jahre dafür brauchen würde, hatte ich mir damals allerdings nicht ausgemalt!
Du hast den Film fast im Alleingang gemacht. Du hattest kein großes Team, das dich unterstützt hat, weil die finanziellen Mittel knapp waren. Du hattest keine Ausbildung zum Dokumentarfilmer und keine Vorerfahrung. Wie hast du die Arbeit an dem Film selber wahrgenommen?
Im Prinzip hat mich meine Naivität über jeden Berg gerettet. Zwar hatte ich nach jedem Berg ein bisschen weniger Kraft, aber ich hatte die immergleiche Naivität, zu sagen ‚Ja nun, dieses Mal habe ich aber wirklich das Gröbste hinter mich gebracht…‘ Es war einfach viel, viel mehr Arbeit, als ich es mir je vorgestellt hätte. Und ich hatte an jeder Ecke unvorhergesehene Probleme, die wir mit Geld im Nu hätten überwinden können. Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich mindestens ein Jahr damit zugebracht, solche netten Dinge wie Filmförderungen zu beantragen.
So aber musste ich viel zu viel selber machen, Freunde dazu zu animieren, für den Film irgendetwas kleines zu machen und Profis zu fragen, ob sie mal am Wochenende Zeit hätten. Aber wenn die wichtigen Produktionsschritte nur am Wochenende weiterkommen, dann dauert es halt auch ewig. Und meist arbeitet man dann eben nicht mit Profis, so dass die Qualität grottenschlecht ist. Dann verliert man noch mehr Zeit, weil man Fehler wieder ausbügeln muss. Das ist mir mehrmals passiert, z.B. beim Soundmix.
Wenn ich Geld gehabt hätte, hätte ich mir sofort einen Producer geschnappt, der die ganzen Abläufe gekannt hätte. Dann hätte man sich die ganzen Umwege gespart, und wir hätten alles in einem Jahr geschafft. Sehr dankbar bin ich den vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die immer mal wieder das Projekt begleitet haben, manchmal sogar über mehrere Monate hinweg. Natürlich bin ich immer gewillt zu schauen, was mir diese Sisyphus-Arbeit an Positivem gebracht hat. Klar wird man da fündig. Ich bin zum Beispiel zum Meditieren gekommen… als einem schönen Weg, um Antennen nach innen zu entwickeln, um zu schauen, wie es einem gerade wirklich geht und um sensibler für Anspannung und Stress zu werden. Vielleicht bin ich jetzt ein stärkerer Nils als ich es vorher war. In jedem Fall kenne ich mich jetzt aber viel besser.
Wie lange hast du an dem Film gearbeitet?
Ich hab 2007 damit angefangen, aber nur so hin und wieder, parallel zu meinem Studium in Paris. Als ich dann 2009 meinen Soziologie-Master in der Tasche hatte, hab ich vier Jahre lang Vollzeit und auch wirklich pausenlos an der Produktion gearbeitet, und seit etwa zwei Jahren am Vertrieb und Verleih des Films. In der letzten Zeit dann in abnehmender Intensität. Gott sei Dank. Den Verleih habe ich mir dann auch aufgeschultert, gefühlt um „den Film zu refinanzieren“: Von wegen! Hätte ich gewusst, dass da noch mal so viel Anstrengung auf mich zukommt, mit so vielen Rattenschwänzen dran, hätte ich diesen Teil wahrscheinlich auch komplett abgegeben und wäre statt dessen lieber in die Schweiz zum Ziegen hüten gegangen.
Was hast du für Fertigkeiten beim Filmen gelernt?
Ich glaub, da schicke ich dir am besten die lange Excel-Liste. Haha. Nicht dass ich in einer dieser vielen Fertigkeiten einen genügenden Professionalisierungsgrad erreicht hätte, aber zum Beispiel bin ich jetzt ein guter Untertitler. Ich liebe es, in einem Tonstudio Regie zu führen, z.B. für Voice-Over, und ich liebe es, Interviews zu führen. In all dem bin ich, glaube ich, ziemlich gut. Was mir auch liegt, ist das Finden von Talenten.
…für Leute hinter der Kamera oder davor?
Für beide! Und ich muss sagen, ich mache mir die Aufgabe auch herzlich einfach: Ich suche die Nähe zu Leuten, die mir sympathisch sind. Und auch wenn sie noch so gut sind: Wenn sie mir nicht sympathisch sind, dann arbeite ich lieber mit anderen zusammen. Und mein Bauchgefühl hat mich nicht oft getrügt.
Ich hab jetzt bei einem zweitägiges „Guerilla-Producing“-Workshop mitgemacht, in dem man gelernt hat, wie man so einen Film im Alleingang produziert; also genau das, wovon ich eigentlich loskommen möchte. Das war mit Marco Wilms, einem deutschen Regisseur. Am Ende des Workshops hab ich ihn gefragt, ob diese Art des Filmemachens – mit diesen vielen Eigenverantwortlichkeiten – zu Belastungen in seiner Familie geführt hat. Ich musste die Frage dreimal wiederholen, bis er sie überhaupt an sich herangelassen hat! Dann ist er ein bisschen nachdenklich geworden und hat schließlich zugegeben, dass es für ihn eigentlich keine echten Wochenenden gibt. Auch wenn er hin und wieder mit seinem Sohn spielt. Und dann meinte er: ‚Also nochmal w¨rde ich das aber nicht machen.‘ Da hab ich mich grinsend gefragt ‚Hallo, wieso wirbst Du dann für Deinen Workshop?‘ Damit redet man der Filmindustrie das Wort, die alles immer billiger produziert haben wollen. Und man belässt die Leute in dem Glauben, das wäre jetzt eine ziemlich coole Art der Filmproduktion, mit der man schneller seine Ideen umsetzen kann oder authentischer Regie führt. Sein ehrliches Statement am Schluss hat doch den halben Workshop in Frage gestellt!
Ich denke, ein wichtiger Grund, warum man diese vielen Mühen schluckt und trotzdem nicht aufgibt, ist einfach, weil man schon zu viel investiert hat. Aber das ist so ein bisschen ein falscher Grund um immer weiter zu hamsterradeln.
Du denkst, dass es falsch ist?
Ja, denn es ist eine Art Selbsterpressung. Ich hab zu viel investiert, deswegen kann ich jetzt nicht einfach so aufgeben. Dann würde ja alles obsolet werden, was ich vorher gemacht habe. Das ist der falsche Grund, weil es die Last der Dinge auf dem eigenen Rücken ist, die einen weiter treibt, und nicht irgendein positiver Stimulus. Die Freunde sagen dann ‚Guck doch, was du alles geschafft hast! Dein Film wird jetzt überall gezeigt. Er ist in 18 Sprachen übersetzt worden. Das ist ein Riesenerfolg‘. Was die Freunde nicht ahnen, ist, was man alles in den sechs, sieben Jahren geopfert hat. Ich würde sagen: ‚Don’t do it my way!‘ Ich denke auch, man kann durchaus aus den Fehlern von anderen lernen. Man muss sie nicht alle selbst machen. Deswegen ist der Besuch einer Filmschule sicher auch sehr sinnvoll.
Was heißt das für dich selbst? Arbeitest du als Dokumentarfilmer weiter oder möchtest du andere Wege beschreiten?
Erstmal möchte ich pausieren. Ich schreibe mir zwar ab und zu Ideen zu Filmen auf, aber ich denke nicht über sie nach. Das nächste große Projekt darf gerne noch ein paar Jährchen warten. Kein Stress!
Vor kurzem habe ich versucht, mir mal die Kräfte, die mich getrieben haben, ein bisschen näher anzuschauen. Neben meinem Wunsch, auf Missstände in der Welt aufmerksam zu machen, hatte ich sicherlich auch das Bedürfnis gehabt, mich künstlerisch auszudrücken. Dann dachte ich: Hätte ich diesen Wunsch nicht viel intensiver ausleben können, wenn ich einfach mit meiner Super-8-Kamera oder mit meiner Handycam filmen gegangen wäre und das dann am selben Abend zusammengeschnitten hätte, ganz ohne Ambitionen und ohne Perfektionismus? Mir ist da wirklich ein Licht aufgegangen. Ich glaube, ich habe jetzt nicht mehr das Gefühl, ich müsste da so ein Riesenprodukt auf die Welt bringen, von dem ja letztlich nur noch 1 Promille künstlerische Tätigkeit ist. Wenn’s hoch kommt. Und dann bin ich mir bewusst geworden, dass man ganz allgemein nicht Produkten hinterherhecheln sollte, wie etwa einem Diplom oder einem Film, ohne vorher für sich ausgemacht zu haben, was sich eigentlich dahinter verbirgt. Egal ob es der Wunsch ist nach einer künstlerischer Tätigkeit, nach Anerkennung, nach um die Welt reisen, oder was auch immer. Vielleicht komme ich dann zu ganz anderen Schlussfolgerungen und möchte gar nicht mehr Dokumentarfilmer sein! Ich muss mir überlegen: ‚Okay, ich liebe das Reisen in fremde Länder. Aber kann ich dann nicht einfach so reisen gehen?‘. Man muss seine Beweggründe untersuchen auf die einzelnen Bedürfnisse, die sich hinter ihnen verstecken.
Ich hab gestern den Film „Finding Vivian Maier“ gesehen. Hast du ihn gesehen?
Leider nicht.
Total schön. Ihr ganzes Leben war Vivian Maier Künstlerin, ohne dass jemand wusste, dass sie Künstlerin war. Sie hat ihre Fotografien nie jemandem gezeigt! Sie hat kein einziges Stipendium bekommen für ihre Tätigkeit, sie hatte keine Mäzene und keine Galerie… aber sie hat sich trotzdem kreativ ausgelebt. Und dafür hatte sie sich ganz gute Bedingungen zurechtgelegt: Sie hat als Kindermädchen gearbeitet und sich so die Möglichkeiten eröffnet, mit den Kindern an der Hand durch Chicago zu streifen und alles, was ihr über den Weg lief, mit der Kamera festzuhalten. Sie hatte genügend Geld und sie hatte ein Dach über dem Kopf. Sie hatte also alle Zeit der Welt, künstlerisch tätig zu sein. Und ich finde, genau so muss man vorgehen.
Gab es in ihrem Nachlass einen Beleg dafür, dass sie zufrieden damit war, nicht in einer Galerie oder Ausstellung ausgestellt zu werden?
Es gibt nur einen winzigen Hinweis darauf, dass sie eine Auswahl von Fotos tatsächlich gerne hätte publizieren wollen. Das ist ein Brief an den Inhaber eines Fotofachgeschäftes in den französischen Alpen, in dem sie schreibt, dass sie einige Fotoarbeiten hat, die ihr gar nicht so schlecht gelungen sind, die sie ihm mal vielleicht zukommen lassen könnte. Aber er ist auf den kleinen Wink mit dem Zaunpfahl nicht eingegangen.
Ich glaube, dass sie eine sehr spezielle Künstlerin war, der sämtliche Fähigkeiten zur Selbstvermarktung komplett abgegangen sind. Das hat natürlich etwas Gutes, weil so das Künstlerische mehr Raum hat, sich zu entfalten. Ihr war es genug, einfach Kunst zu machen. Sie hat sich wahrscheinlich bei jedem Foto wie ein Kind gefreut, wenn es ihr gut gelungen ist. Und diese Urfreude, diese unmittelbare, unbedingte Freude ist halt genau das, was man eigentlich anstreben sollte. Man darf nicht bei jedem Foto denken ‚Wow, dieses Bild wird sich super gut verkaufen‘, oder ‚Mein Facebook-Like Status wird an die Decke gehen‘.
Apropos Status. Wie ist der Status für deinen Film? Willst du weiter auf Festivals deinen Film zeigen?
Ich hab das Glück, dass ich jetzt mit dem Projekt definitiv übern Berg bin. Was jetzt ansteht, sind kleinere Sachen, die ich eher mal nebenher machen werde.
Was heißt für dich ‚übern Berg sein‘?
Vor allem, dass jetzt dieser Druck nicht mehr auf mir lastet. Ich muss zum Beispiel nicht mehr nachts für den Film arbeiten, kann auch mal einen Tag frei nehmen. Dieses Gefühl hat sich aber erst breit gemacht, als die wichtigsten Meilensteine erreicht waren: Die Fertigstellung der Webseite, die Rechteverkäufe an zwei, drei Verleihe, die DVD-Editionen, die Starts in Deutschland, Österreich und Großbritannien…
Jetzt erst kommt das Gefühl, dass ich endlich die Früchte meiner Arbeit ernten kann. Und erstaunlicherweise genieße ich es jetzt auch erstmals ganz und gar, bei einer öffentlichen Vorführung präsent zu sein und dem Publikum Rede und Antwort zu stehen. Vorher sind ja meine Gedanken und Sorgen ständig nur um die Baustellen des Films gekreist, als wäre das ein Patient auf der Intensivstation. Völlig verrückt.
Wo kann man deinen Film „Voices of Transition“ jetzt genau sehen?
Man kann den Film auf unserer Webseite streamen und die DVD bestellen, aber am schönsten und wirksamsten ist es, eine öffentliche Vorführung zu organisieren. Wenn dann alle Leute im Kino die Köpfe zusammenstecken und anfangen zu überlegen, ‚was können wir mit dieser positiven Energie, die einem der Film vermittelt, anfangen?’… ‚Wie können wir diese Aufbruchsstimmung in praktische, konkrete Aktionen umwandeln?‘ Dann habe ich das Gefühl, dass der Film sein Ziel erreicht hat. Er war ja von Anfang an als eine Art Werkzeug im Dienst der sozialökologischen Bewegung gedacht, als eine Art Katalysator für den Wandel. Viele NGOs nutzen ihn so. Und eben auch Initiativen, die eine ‚Transition Town‘ gründen wollen.
In Berlin wird es bald auch wieder eine Vorführung geben, wahrscheinlich im „Zukunft Kino“ am Ostkreuz. Da werde ich dann auch dabei sein.
Was ist für dich ein Sehnsuchtsort?
Ich glaub ehrlich gesagt, mein Sehnsuchtsort ist atopisch, er ist nicht wirklich ortsgebunden. Eigentlich fühle ich mich beim Reisen am meisten daheim. Hier sollte ich mich vielleicht auch nach den Bedürfnissen fragen, die dieser Sehnsuchtsort erfüllen muss… Mir fällt ein, dass dieser Ort im konstantem Wandel sein muss. Ich stelle mir vor, wie ich mit dem Rucksack durch eine Gegend mit viel Natur wandere, durch Canyons steige, durch urtümliche Dörfer, wo ich vielen Menschen mit glücklichen, leuchtenden Augen begegne. Ich habe die warmen Tropen sehr gerne. Es ist so schön, draußen übernachten zu können, ohne einen Schlafsack zu brauchen. Dann stelle ich mir vor, wie ich aus dem Dschungel zufällig in ein mexikanisches Volksfest reinstolpern würde und dort als Gast mit offenen Armen empfangen würde. Ich glaub, das ist mein Sehnsuchtsort.
Welche Themen könnten dich ebenso begeistern wie die Agrarökologie, dass du einen weiteren Dokumentarfilm drehst?
Ich habe letztens versucht, mal alle Ideen zu notieren, die mir mal durch den Kopf gegangen waren, und es sind so ein halbes Dutzend, die mich wirklich reizen. Ich finde zum Beispiel, dass das Thema ‚Schönheit als Motor der Gesellschaft‘ sehr unterbelichtet ist. Teilweise, weil es nicht politisch korrekt ist: Man sagt in den wenigsten Fällen, ‚diese Person hat reüssiert, weil sie so schön ist‘, oder ‚man kann nur amerikanischer Präsident werden, wenn man groß gewachsen ist und gleichmäßige Gesichtszüge hat‘. Und dann frag ich mich auch manchmal, warum ich so fasziniert bin, wenn ich einen schönen Menschen sehe. Ich kann mir gut vorstellen, das Thema ein bisschen zu recherchieren und ein paar Schriftsteller und Wissenschaftler aufzusuchen. Ich glaube, ich brauche schlicht mal ein bisschen Abwechslung. Auch wenn Agrarökologie noch so wichtig ist!
Abgesehen vom Film, der dich seit deiner Kindheit fasziniert, gibt es noch andere Kulturgenres, die dich begeistern?
Das Tanzen, sicherlich. Einen meiner glückseligsten Momente letztes Jahr hatte ich bei einem Folklore-Tanzkurs, geleitet von einem argentinischen Chacarera-Tänzer. Das hat mich jedes Mal extrem zum Vibrieren gebracht, mit jeder Faser. Mir hat sehr gefallen, dass es ein Gruppentanz ist. Zwei Reihen stehen sich gegenüber, man wedelt um einander herum, und es ist wie ein Verführungstanz: Man guckt sich dabei in die Augen und darf den Blick nicht senken. Da passiert immer so viel, egal mit wem man tanzt. Und die Musik ist so schön, dass einem Schauer über den Rücken laufen.
An dem Chacarera Tanz mag ich auch, dass er so viele Einflüsse in sich vereint. Aus Spanien hat er ein paar Flamenco-Einsprengsel, aus dem Balkan den Kasatchok, und aus der französischen Barock-Epoche das Menuett, und dann gibt noch, ganz wichtig, den Einfluss der indigenen Völker mit ihrem Sonnenanbetungstanz. Ich selber habe ja spanische und französische Ursprünge und wäre in meinem zweiten Leben gerne Argentinier. Insofern passt der Tanz ganz gut zu mir.
Sonst mach ich auch ein bisschen Musik, aber nicht so, wie ich mir es gerne wünschen würde. Denn ich kann mich leider nicht mit Musik ausdrücken: Ich gehöre zu denen, die von der Partitur ablesen müssen. Das finde ich extrem bedauerlich. Ich glaube, wenn man sich durch Musik oder Zeichnen ausdrücken kann, ist das ein so schönes Geschenk. Kannst Du das?
Musik, nein, rein gar nicht, aber Zeichen oder Malen hatte ich im Fokus. Meine Mutter war Kunstlehrerin. Natürlich war ich dann als Kind ganz begierig darauf, auch schön malen zu können. Ich fand meine Sachen aber nie so gut, und hab dann schnell gemerkt, da kann ich nicht mit konkurrieren. Ich mach was anderes.
Hast du manchmal bedauert, dass du diese Selbstzensur entwickelt hast?
Ja, wirklich.
Ich glaube, wir leben in einem Land, wo wir uns viel zu sehr mit Experten vergleichen. Das schwingt zum Beispiel latent mit, wenn man zur Musikschule geht. Man muss heute schon mit sechs Jahren beginnen, ein Instrument zu spielen, – es soll ja ein Meister aus einem werden! Wenn du mit einundzwanzig Jahren Lust auf ein Instrument hättest, sagt du dir innerlich ‚Ach, da wird doch nichts mehr draus, Du bist dafür schon zu alt.‘ Aus anderen Ländern, wie z.B. Argentinien, kenne ich das, dass Leute viel weniger Hemmungen haben, ein Instrument sehr spät zu erlernen, und sie spielen dann auch, wenn sie das Gefühl haben, sie beherrschten das Instrument nicht sonderlich gut. Man spielt dort nicht Gitarre, weil man sich dann darauf etwas einbilden kann, sondern weil es einem Spaß macht. Und weil es großartig ist, wenn man andere Leute zum Tanzen bringen kann, ohne Sound-System. Dieser Antrieb ist uns hier leider komplett abhanden gekommen.
Für mich war es so: Ich hab gedacht, ich kann mich durch das Zeichnen künstlerisch ausdrücken, weil ich durch meine Mutter zum Zeichnen geführt wurde. Ich hab dann aber gemerkt, dass ich mich weitaus besser mit dem Schreiben künstlerisch ausdrücken kann. Der Fokus war am Anfang sozusagen erstmal falsch gelegt.
Pendelst du noch zwischen Paris und Berlin?
Nein, das ist gänzlich vorbei. Ich hab mit Paris ein bisschen abgerechnet. Für mich ist das eine sehr geschlossene, museale Stadt, die der künstlerischen Betätigung krasse Riegel vorschiebt. Das ist auch eine sehr depressive Stadt. Die Zahl der Antidepressiva, die dort verschrieben wird, ist die höchste weltweit. Es ist obendrein eine extrem bürgerliche Stadt, wo jeder den eigenen Erfolg daran misst, wie nah er dem luxuriösen Lebenswandel kommt, wie er im 16. oder 19. Arrondissement in den Etagen der Eliten vorgelebt wird. Es sind auch einfach zu viele unglücklich, weil sie an ihren eigenen Bedürfnissen vorbeileben und sich nicht selbst kennen. Das ist auch eine Stadt, die einem überhaupt nicht die Räume dafür bieten würde. Montreuil und Bagnolet im Osten der Stadt sind vielleicht die einzigen Orte, wo was lost ist, wo die Menschen ein bisschen Spaß zu haben scheinen und auf der Straße ab und zu Nachbarschaftsfeste organisiert werden. Ansonsten ist Paris total steril geworden. Die Mieten sind extrem hoch. Kein Künstler kann sich das leisten. Sie gehen dann nach Toulouse, in die Ardèche oder nach Marseille. In Paris bleiben nur die übrig, die einen Angestellten-Job haben. Alle Nicht-Pariser aus der ‚Provinz‘, die ich in Paris getroffen hab, wünschen sich am liebsten zurück in ihre Heimat. Aber alle sagen auch im selben Atemzug ‚Aber der Job ist halt ganz gut bezahlt‘ und bleiben doch in Paris hocken.
Paris heute hat noch erstaunlich viel von der Cour de Versaille aus dem 18. Jahrhundert, wo am Königshof die Männer wie die Frauen geschminkt herumliefen, nonstop performen mussten und überhaupt ganz viel Wert auf Formen legten und auf ‚Esprit‘. Letztendlich geht dabei der Inhalt, das pragmatische Weiterkommen, das An-sich-arbeiten drauf. Konflikte werden nur hinten herum ausgetragen. Da hab ich mich am Ende meiner fünfjährigen Zeit in Paris schon stark nach mehr Deutschhaftigkeit gesehnt. Die kann auch ruppig sein, aber wenigstens weiß man, was man hat. Im ersten Jahr in Berlin hat mir deswegen die Berliner Schnauze gar nichts ausgemacht, weil ich wusste, hier wird viel echter miteinander umgegangen. Das gibt letztlich dem Gegenüber vielleicht mehr Wertschätzung, als wenn man sich mit falschen Höflichkeitsfloskeln überhäuft.
Aber… wenn ich ehrlich bin: Ich bin jetzt in meinem dritten Jahr in Berlin und ab und zu wünsche ich mir doch auch wieder ein bisschen mehr Pariser Freundlichkeit herbei! Mit solchen paradoxalen Wünschen muss man wohl leben lernen.
Nils Aguilar ist 1980 in Tübingen geboren. Er absolvierte ein Studium der Soziologie und politischen Philosophie in Paris. Seinen Dokumentarfilm „Voices of Transition“ hat Nils Aguilar selbst produziert. Zwei Stipendien aus Frankreich und aus der EU haben ihm die Anschubfinanzierung ermöglicht. Zusätzlich haben drei Crowdfunding-Aktionen und viel ehrenamtliches Engagement von Helfern aus aller Welt den Film möglich gemacht. Der Film wird in Deutschland im Eigenverleih vertrieben. Er ist auf über 20 Festivals gelaufen. U.a. hat er auf dem „Colorado International Film Festival“ 2014 die Auszeichnung „Best Environmental Film“ erhalten, sowie „Best First Director“ bei den „Oregon international Film Awards“. www.voicesoftransition.org